Dr. Marianne Bludau über Gerhard Lahr

aus der Halbjahresschrift Salatgarten 2/2015 der Hans-Fallada-Gesellschaft e.V., Feldberg

Geliebt und nach wie vor lebendig

Kinderbücher aus der DDR mit Illustrationen von Gerhard Lahr

Wer in der DDR aufgewachsen ist, weiß, dass Kinderbücher Kultstatus besaßen. Es mag an der Abgeschiedenheit vom Rest der Welt gelegen haben, dass das Angebot an Kinderbüchern überschaubar war. Unbestritten ist indes, dass der Entwicklung und Gestaltung von Kinderbüchern viel Liebe und Sorgfalt zu Teil wurde. Zudem hatten Bibliotheken, Schulen und Kindergärten einen nicht unerheblichen Anteil an ihrer Verbreitung. Jährliche Höhepunkte waren die Tage der Kinderliteratur, an denen Autoren, Grafiker und Verlagsleute mit Unterstützung von Bibliothekaren eine Woche lang in die Schulen und Kindergärten gingen, mit den Kindern lasen, malten und über Bücher redeten – ein Klima, in dem Phantasie und Kreativität gedeihen konnten.

Die Geschichten, Märchen und Erzählungen halfen den kleinen Lesern, ihre Welt zu erkennen und zu verstehen. Vorallem die Bilderbücher waren es, die mit ihren Illustrationen die ganze Bandbreite der künstlerischen Handschriften aufblätterten. Namen wie Klaus Ensikat, Werner Klemke, Elisabeth Shaw, Thomas Schleusing, Ingeborg Meyer-Rey, Gertrud ZuckerAlbrecht von Bodecker und Barbara Schumann stehen für die Vielfalt künstlerischer Ausdrucksmöglichkeiten. Seherfahrung schulen und die Heranwachsenden aufschließen für die Vielfalt der Kunst – das war im weitesten Sinne das Konzept der Buchmacher.

Vielen der noch heute unvergessenen Kinderbücher hat der Grafiker Gerhard Lahr ein Gesicht gegeben. Da wäre Die Geschichte vom Mäuseken Wackelohr. Die Erzählung aus Falladas Geschichten aus der Murkelei erschien 1976 zum ersten Mal als eigenständiges Bilderbuch im Kinderbuchverlag Berlin. Da sitzt es in seinem großen alten Stadthaus und träumt von seinem Mäuserich in dem anderen großen Stadthaus gegenüber. Allein und traurig ist Mäuseken, denn all seine Verwandten hat schon die heimtückische alte Katze geholt. Aber die Liebe verleiht ja bekanntlich Flügel, und so nimmt Mäuseken Wackelohr den Kampf auf gegen die alte Katze und deren Nachstellungen und gegen den Verrat der heimtückischen Ameise.

Gerhard Lahr berichtet in den Carwitzer Notizen, herausgegeben vom Kinderbuchverlag Berlin 1985, wie die Arbeit an dem Buch begann. „Meine Arbeit ist Zeichnen. Zu Hause ereignete sich ein Vorfall. Unser Kater vergaß auf meinem Schreibtisch eine tote Maus. Ich sollte sie zeichnen. Genauer hinsehen, bitte keine Klischees. Die Maus hatte ein Gesicht.. Zeichnen zwingt zum Anschauen, entwickelt eine Anschuung zum Objekt, meist Sympathie. Mäuseken beginnt zu leben. Sie also ist die gehetzte, verletzte Hauptfigur. Jetzt kann sie die Handlung übernehmen, ich kenne sie, sie ist mir vertraut.“

Das Zitat sagt viel aus über die Arbeitsweise von Gerhard Lahr. Bis eine Figur, eine SituationGestalt gewann, gingen der endgültigen Fassung oft unzählige Blätter voraus, die er wieder und wieder verwarf, bis auch das winzigste Detail dem strengen Blick standhielt. Gerhard Lahr arbeitete besessen, oft nachts, von Zweifeln geplagt. Den zarten Aquarell-Zeichnungen mit den ausdrucksstarken Physiognomien, die schließlich den Weg ins Buch fanden, sieht niemand an, welch intensives Ringen um die endgültige Form dem Ergebnis voranging.

Seine Suche nach Wahrhaftigkeit und seine tiefe Liebe zu den kleinen Wundern der Schöpfung zeigt sich immer wieder in seinen Natur- und vor allem seinen Blumendarstellungen. So auch in den Illustrationen zu Heinz Kahlaus Versen im Bilderbuch Der Rittersporn blüht blau im Korn. Angereichert mit Witz und Phantasie werden sie zu einem anregenden Naturführer, der Entdeckerfreude weckt. Es ist diese, seine Sicht der Dinge, die er vermitteln möchte: „Alles, was Groß ist, müsste gemessen werden an der kleinen blauen Glockenblume“.

Wärme in die kalte Winterwelt zaubern die Illustrationen zu Erwin Strittmatters Ponyweihnacht, das 1987 erstmals erschien. Ebenfalls Winter ist es in der Geschichte von Barbara Augustin, Antonella und ihr Weihnachtsmann. Gerhard Lahrs Aquarelle verhalfen dem Buch im Jahr 1969 zur Auszeichnung als „Schönstes Buch des Jahres“.

Aber er konnte auch anders, der Poet unter den Buchillustratoren. Frech und unverfroren kommen sie daher, die kessen Mäuse in den vier Geschichten um den treusorgenden Hahn Krawitter, dem die ausgekochten Mäuse Stinchen und Minchen über die Maßen zusetzen. Witz und Fabulierfreude sorgen für jede Menge Situationskomik, wie nicht nur Kinder sie lieben. Herbert Friedrich erzählte die Geschichten zu den Büchern.

Nicht unerwähnt bleiben darf die von Hannes Hüttner erzählte, turbulente Geschichte von der Feuerwehr, bei der der Kaffee kalt wird, weil die Feuerwehrleute von einem Einsatz zum nächsten gerufen werden. Das Buch wurde bis heute seit 1968 viele Male neu aufgelegt.

Gerhard Lahr schuf nicht nur Bücher für die Kleinsten. Seinem Sinn für Authentizität und Atmosphäre konnte er auch in den Bildern zu den Indianerbüchern von Gerda Rottschalk, u. a. Die ersten Indianer (1977) und Der Kampf am Wounded Knee (1981) Ausdruck verleihen. Nicht zu vergessen die opulente Ausgabe Sie alle heißen Indianer aus dem Jahre 1975 nach Texten von Eva Lips.

Die Bewahrung des Erbes aus der klassischen Kinderliteratur der DDR hat sich seit 1998 dankenswerterweise der Beltz Verlag verschrieben, der einen Teil der Bücher vor allem des Kinderbuchverlages Berlin als eigenständige Edition herausgibt. Damit bleibt wertvolles Kulturgut lebendig.