
Hannelore Fischer über Gerhard Lahr
Lektorin von 200 Büchern im Kinderbuchverlag Berlin
Ausstellungstext Helle Mitte
gehalten: 22.05.2012
überarbeitet: 13.03.2024
Was soll man sagen, es ist eine Binsenweisheit: Die Welt ist voller Bilder, sie erschrecken, bezaubern, treiben an zu neuen Tun, nicht alle aber sind Kunst. Umso erfreulicher, Künste wieder im Alltäglichen zu verwurzeln und ihnen im Leben der Menschen eine unmittelbare Bedeutung zu verleihen. Heute also trifft Malkunst von Gerhard Lahr auf Praxis für Gefäßmedizin. Spitzt man beider Anliegen zu, sorgen Künstler und Arzt sich gleichermaßen darum, dass entgegen der Schwerkraft das Herz ausreichend mit Blut versorgt wird, poetischer ausgedrückt: dass es den Menschen zu Herzen geht.
Klein ist größer umschreibt Gerhard Lahr seine besondere Neigung und Passion für Kinder zu illustrieren. Seine phantasievollen Zeichnungen, Malereien, Linoldrucke und Schabtechniken, voller Witz, Frohsinn und Fabulierkunst; die ideenreichen Collagen textiler und botanischer Montagetechniken (Hauff/Märchen) und (Kahlau/Rittersporn) zeugen davon.
Gerhard Lahr, 1938 im Vogtland geboren, sieht sich als ein kindverbundener Erwachsener. Es ist ihm wichtig, in den Kindern die Freude an der Kunst und künstlerischer Betätigung zu wecken, sie zu überraschen, erstaunliches mit ihnen zu teilen und ihnen in ihrer Gefühlswelt zu begegnen.
Im Vorwort zu „Hauffs Märchen“ beklagt sich das Märchen bei seiner Mutter, der Königin Phantasie: „Sieh, die Menschen haben kluge Wächter aufgestellt, die alles, was aus deinem Reich kommt, mit scharfen Blick mustern und prüfen.“ Es sei gestattet die Wächter als rationalen Alltag zu sehen, in dem jede Sekunde, jede Minute gefüllt sein soll, sie stehen für Befangenheit und Nützlichkeitsdenken. Gerhard Lahr hat seine Phantasien dazugestellt, die Betrachter können den inneren Gesetzen des Lebendigen und der heilsamen Heiterkeit nachgehen. „Das naive Staunen-Können, ob der Zauber und Wunder in der Menschengesellschaft und in der Natur ist immer noch neben dem Schaudern-Können, ob der Ungeheuerlichkeiten dieser Welt des Menschen bester Teil“. (Franz Fühmann) Nicht zufällig hängen diese Illustrationen am Anfang dieser Ausstellung.





Also von der heute angekündigten Finissage zurück an den Anfang. Wie wird ein Junge aus dem Vogtländischen zu einem Künstler, dessen Bilder, und das ist nicht gelogen, in die ganze Welt gehen, wie in der East Side Galerie zu sehen ist …
Kindern beschrieb er seinen Weg so: „Ja, ich bin Maler geworden, und wie es angefangen hat, ist nicht leicht zu sagen. Irgendwann muss ich wohl einen Stift in die Hand bekommen haben, und dann ging es los. In meiner Jugend stand ich mit Mozart auf der Bühne, ja wirklich. Ich spielte eine Violine, aber weil der Geigenlehrer mir immer die Finger langziehen wollte, weil er meinte, so könnte ich besser spielen, bin ich Maler geworden. Außerdem hieß meine Mutter Wunderlich. Seitdem wundre ich mich. Offensichtlich habe ich das Träumen und Phantasieren von ihr geerbt. Immer musste ich Geschichten erfinden, Erlebnisse aufzeichnen, denn der Drang nach Abenteuer war immer da. Den hab ich oft auf dem Papier ausgelebt, in Seeschlachten, russischen Waldmärchen und ritterlichen Begebenheiten.“
Es ist schon ein paar Jahre her, mehr als fünf, mehr als zehn, als ich Besuch bekam vom Maler Gerhard Lahr. Er klingelte an der Verlagstür nunmehr Meinekestraße zwei. Das hieß, Der Kinderbuchverlag war im Westen unweit vom „Kudamm“ gelandet, neue Adresse, neue Verlagsleitung.
Der Maler Gerhard Lahr hatte sich auf den Weg gemacht, kurzfristig in aller Eile den bunten Kittel noch an, die Pinsel in der Hand und seinen legendären Schalk im Nacken. Es war Osterzeit. – Er klingelte. Sein fertiges Bilderbuch, „Der Maler Hase“ abzugeben im neuen – alten Verlag, war sein Ziel. – Wer weiß, was noch alles kommt in dieser Zeit, die später alle die Wende nannten. Sein Spaß, anderen eine Vorstellung zu geben, gelang. Beim Empfang, der neue Verleger hatte die Tür geöffnet, wurde ihm irritiert mitgeteilt: „Wir haben keinen Maler bestellt“.
Gerhard Lahr hatte ein Buch mit vielen Blumen und Hasen gemalt, voller Frühling und Vorfreuden. In diesem Haus wurde es gerne angenommen, aber nicht publiziert. Das Schicksal vieler Autoren und Grafiker.
Der ganze Reichtum an herrlichen Büchern lag einfach nur da und lag und lag… Nichts für einen Maler, der bis zur Besessenheit verstreicht, verpinselt, verspachtelt, sich verschwendet bis leicht und leuchtend ein Ereignis auf der Staffelei zu bestaunen ist. Keine Zeit für Grübeleien. – So wird der Garten sein Aktionsfeld. Papier, gutes noch aus dem Künstlerbedarf, dazu herrliche Farben nun von Boesner: Titanweiß. Lichter Ocker. Zinnober Rot, Russisch Grün. Schon diese Namen sind ein Versprechen, das Gerhard Lahr halten will.
Besuche bei dem Maler zu jener Zeit, verblüfften: Unter einem Baldachin am Arbeitstisch stehend malte er, um Ihm gruppiert: Blumen, Badewanne, Schüsseln, Töpfe mit Papieren in Farbtunke. Nach dem Farbauftrag geht er ins Bad und hält das Blatt unter die Brause. Er wäscht mit dem Pinsel die Konturen hell heraus, unterstützt sie mit ein paar Kreidestrichen, bearbeitet ein dunkel gemaltes Blüteninnere mit der Bürste. Und zu guter Letzt, die Natur nachempfunden, klärt er Umrisse mit dünnem Pinsel, den er so fein und spitz drehte, wie es nur ging. War der Pinsel noch nicht fein genug, zog er ihn durch die Lippen und rollte ihn mit Hingebung zur zartesten Spitze.



Gerhard Lahr ist in seiner Ausdrucksfülle mit dem Körper und auf dem Papier immer ein Gesamtkunstwerk. Sein zu Hause zählt dazu: Es strahlt Anmut und Fröhlichkeit aus, das Atelier ohne Tür, stets verbunden mit der Welt; ein Blick in das muntere Familienleben, der andere aus dem Fenster in die Natur mit wechselvollen Veränderungen, in die weite Welt und wieder zurück. Diese Blumen-Gartenzeiten sind auch bei uns, den Freunden, Berufskollegen, Lektoren, Prominenten und vielen „dreibeinigen Hunden und vierbeinigen Katzen“ , besonders die Katzen benannt nach ihrer Herkunft, Mülli, Bauwagen, Gringa und Luco; die Migranten aus Kuba, in bester Erinnerung geblieben. Auf dem Hügel oder am Feuer Gespräche über Gott und die Welt, eingebettet in der wohligen Wärme seiner Holden – Annegrets Küchenphantasien, vor allem der legendären Pilzsuppe.
Und ein kleiner Zauberlehrling ist dem Maler inzwischen zu Hilfe gekommen. Die Enkelin Frieda. Sie mit ihm und er mit ihr bemalen über alle vier Ecken das Haus, die Farben natürlich nicht abwaschbar. Wie mit Frieda so ist es ein oft gesehenes Bild, Gerhard Lahr inmitten der Kinder, ihre Porträts malend, dabei Geschichten erzählend. Sie teilen wohl mit ihm ein großes Geheimnis. Ein jeder kennt es, keiner redet darüber; in jedem Kind ist ein Dichter/Künstler verborgen.
Gerhard Lahr erinnerte gerne an eine Geschichte, die er bei Johannes R. Becher gelesen hatte: Ihm erzählte ein Freund von seiner Tochter, die als sechsjährige eine begabte Malerin war. Sie malte mit Inbrunst die Sonne mit wilden Sonnenzungen, denn so erlebte sie diese auch, als flammendes Wunder. Und dann kam die Schule. Man gab ihr ein Lineal, und sie musste die Strahlen gleichmäßig ziehen. Das war ihre Sonne nicht mehr. Sie hatte sich ein für allemal davongestohlen.
Die Verteidigung der Poesie durchdringt Gerhard Lahrs Werke. Sein Malen ist das Aufspüren des Vergessens. Der Kreislauf der Natur, ihr Wachsen und Vergehen will Gerhard Lahr festhalten, um es aufzuheben. Das gibt Kraft und Zuversicht. Jeder Strauß ist wie ein ausgedehnter Spaziergang. Der Betrachter spürt die Sonne, das Wasser, den Wind. Gerhard Lahrs Bilder von Blumen und Landschaften wärmen, tönen und duften. Sie sind voller Farbenfreude und Milde, sie haben etwas Anrührendes, auch Prächtiges. Er mochte es gar nicht, dass man Hand anlegte, beschnitt, was die Natur hervorbrachte. Die Gartenwerkzeuge seiner lieben Frau wurden stets unter dem Bett versteckt.
Schon im alten Ägypten bedeutete das Wort „Strauß“ zugleich auch „Leben“. Malen ist atmen, malen ist für Gerhard Lahr leben, mit den Kleinen, mit den Großen. „Dass unsere Aufgabe genau so groß ist wie unser Leben, gibt ihr einen Schein von Unendlichkeit „Franz Kafka“.


